Robin Sandfort

Wildbiologe & Naturfotograf
Gross-Enzersdorf

Mein Name ist Robin Sandfort, ich kam 2007 als klassischer Bildungsflüchtling nach Österreich, um hier zu studieren. Gross-Enzersdorf ist meine erste Station, wo ich am Stadtrand lebe. Meine Familie und ich verbringen unsere Zeit großteils im Wald und auf der Wiese, also sehr konträr zu den meisten Anderen hier. Was ich am Lebensraum Stadtrand schätze ist, dass ich in relativ kurzer Zeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Großstadt komme und umgekehrt in 15 Minuten im Wald sein kann, ohne einen Menschen weit und breit zu sehen – das ist schon ein Extrem.

Was mich an meinem Beruf als Wildbiologe begeistert ist, wenn ich es schaffe eine unsichtbare Welt, die für die meisten nicht erreichbar, verstehbar oder beobachtbar ist und viele Fragen aufwirft, mit meinen Werkzeugen aufzudecken. Wenn ich nachher in den Gesichtern ein „Aha“ und eine Leuchten sehe, ist das eine schöne Bestätigung.

Was mir im Kontext meines Tuns aufgefallen ist, dass in den meisten Orten in denen ich vorher gelebt habe, es Gruppen oder Individuen gab, die sich intensiv mit der Natur beschäftigen und Kinder aber auch Erwachsene begeistern. Das fehlt hier völlig! Ich bin schon viel in der Welt herumgekommen, aber ich hab noch keinen Ort gefunden, wo so ein Fokus nicht existent ist, wo es nicht zumindest eine Person gibt, die mit ihrem Hobby andere begeistert, die den Wunsch hat diese Begeisterung an andere Menschen weiterzugeben. Das ist ein ganz eigenartiges Konstrukt, möglicherweise resultiert das aus der Eigenheit von Suburbia.

Zur Person

Der gebürtige Deutsche lebt seit 2013 in Groß-Enzersdorf, er ist verheiratet und Vater von 2 Töchtern.

Nach mehreren Stationen in Deutschland, kam er für eine in Europa einzigartige Ausbildung 2007 nach Wien. Nach einigen Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität für Bodenkultur Wien ist er nun europaweit als Wildbiologe tätig.

Der begeisterte Natur-Fotograf ist immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten Unsichtbares sichtbar zu machen, Komplexes zu erklären und will mit seiner Arbeit möglichst viele Menschen für die Natur und ihre wilden Bewohner begeistern. So engagiert er sich unter anderem in der Schule der Neugier (Photo rechts: CSI Natur: Spurensuche in der Lobau).

www.capreolus.at

(Sandfort)

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Würdest Du Dich als „Homo suburbanicus“ oder eher als „Suburbianer“ bezeichnen und was macht Deiner Meinung nach den Unterschied aus?

Suburbianer klingt gut, ein bisschen so wie ein Indianer der in einem Reservoir lebt. Schwer zu sagen, wie man sich einstufen kann. Wir sind ja generell schwer in Kisten zu stecken. Das heißt: wo wir herkommen, was wir arbeiten, wie wir leben, ist glaube ich nicht so einfach sortierbar. Genau wie wir nicht nur Deutsche, Österreicher, Wiener oder Niederösterreicher sind, sondern uns immer anders definieren.

Brauchen wir diese Definitionen, ist das wichtig?

Ob wir Definitionen brauchen, um andere einzuschätzen? Für sich selbst muss man einmal wissen wer man ist und das man vielleicht unabhängig von seinem Lebensort agiert und existent ist. Gerade wenn man schon so oft umgezogen ist wie ich und in vielen neuen Gebieten gelebt und gewohnt hat, kann man sich nicht 100%ig durch seinen Wohn- oder Arbeitsort definieren, weil sonst würde man sich bei jedem Umzug komplett verlieren und sich aufgeben. Ich glaube es macht einen großen Unterschied, ob jemand ein Leben lang an einem Ort gelebt hat und da fest verwurzelt und stark integriert ist und dann an einen neuen Ort zieht. Oder jemand, der so ein Nomade der modernen Bildungs- und Arbeitswelt ist wie ich und ständig von Ort zu Ort zieht. Der muss sein Schneckenhaus irgendwie mitnehmen, von einem Ort zum anderen und braucht dafür einen schönen Stellplatz, wo er aussteigen und mit der Umgebung agieren kann. Wenn man jemand ist, der nicht für die Ewigkeit gekommen und nicht für die Ewigkeit gegangen ist.

Sehr philosophische Worte! Aber mir gefällt dieses Bild, das Du gezeichnet hast: wir müssen für uns wissen, wer wir sind. Wir brauchen für uns eine Identität. Es gibt unterschiedliche Ansätze, der Eine definiert sich über den Job, die Andere über das was sie hat und andere wiederum über das, wer sie sind.

Ich glaub schon, dass Gross-Enzersdorf oder Suburbia, auch wenn ich wieder weiterziehen sollte im Leben, dann ein Teil von dem ist, mit dem ich an den nächsten Ort ziehen werde. Mit den Erfahrungen und dem Wissen um das Leben in Suburbia. So wird es dann ein Teil von mir. So wie ich von allen anderen Punkten, über die ich in meinem Leben gezogen bin, in einem gewissen Grad etwas mitgenommen habe. Ich erinnere mich daran und habe immer irgendwas rausgezogen und vergleiche dann wieder mit den neuen Orten. Das funktioniert am besten, wenn man alles vom Urbanen bis zum Ländlichen mal erlebt hat.

Was ist für Dich das Spezielle am Lebensraum Stadtrand?

Gross-Enzersdorf ist die erste Station von vielen, wo ich wirklich so am klassischen Stadtrand lebe. Meine Familie und ich sind nicht klassisch nach Wien orientiert sondern verbringen unsere Zeit großteils im Wald und auf der Wiese, also sehr konträr zu den meisten Anderen hier.

Wir kommen in relativ kurzer Zeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die große Stadt. Das ist eine Situation, die ich so bisher noch nicht hatte. Also ich kann in 15 Minuten im Wald oder auf dem Acker sein ohne einen Menschen und umgekehrt in der Stadt umgeben von hunderten Menschen mich wiederfinden und das ist schon ein Extrem. Das habe ich tatsächlich so schon gehabt, dass ich in den Wiener Hausbergen eine Birkhahn-Zählung am Berg im Schnee gemacht und dann am Mittag in der Staatsoper eine Vorführung gehört habe. Diese Kombination zu haben, das macht dieses Gebiet für mich aus. Zwischen Stadt mit Kultur und Land mit Natur wählen zu können, weil ich gerne beides nutze.

Glaubst Du, dass sich Viele dieser Möglichkeiten bewusst sind und das so wie Du nutzen?

Das glaube ich nicht. Man muss sich erst mal über diese reglementierten Zugänge zur Natur hinaus trauen,weil der Nationalpark der direkt vor unserer Haustüre beginnt ist ja mit vielen Regeln und mit Grenzen und mit offiziellen Wegen ausgewiesen. Das schreckt schon mal viele Leute ab. Ein Erlebnis zu haben, wo man dann nicht 1000 Andere sieht. Also die Hürde, mehr als mit dem Hund dort Gassi zu gehen, ist glaub ich, für den allergrößten Teil der Leute, obwohl es so nah ist, zu groß. Das Gassi-gehen ist eine minimale Hürde, das kann jeder und tun glaub ich auch Viele, aber diesen Schritt weitergehen z.B. um 3 oder 4 Uhr früh hinaus zu gehen und das erste Licht zu erleben, dass tun nur sehr wenige.

Da muss ich mich selbst bei der Nase nehmen, ich war in den 8 Jahren hier erst 2 mal nachts in der Lobau. Das waren einprägsame Erlebnisse und trotzdem habe ich es nicht öfters gemacht.

Aber nochmals zurück zur Hürde: ich erlebe es immer wieder, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, die Leute bewegen sich großteils an den Rändern und wenn ich weiter vordringe begegne ich immer weniger Menschen. Sind es die vielen Verbote oder die Distanzen, weswegen man weiter drinnen kaum Menschen begegnet?

Absolut, aber da wird’s erst spannend! Dabei ist es gar nicht so weit, bis es wirklich interessant wird. Wir haben ja vom Institut Analysen gemacht, bei denen wir die Besucherströme in der Lobau untersucht haben, sowohl durch Zählung als auch mittels Befragung, auf welchen Wegen sich die Leute da bewegen. Der Großteil der Besucher konsumiert die Lobau auf diesen ausgewiesenen „Autobahnen“, wo auch geplant ist, dass die Leute dort laufen, um das zu Kanalisieren und die Tausenden Menschen wirklich nur auf kleinen Flächen laufen zu lassen. Wenn man dann schaut wieviele sich dann noch weiter nach hinten trauen, das wird dann immer weniger.

Wenn Du vom „Institut“ sprichst, welches ist das?

Also der Grund warum ich überhaupt hier in Österreich bin, ist das Institut für Wildbiologie an der Universität für Bodenkultur in Wien. Ich kam als klassischer Bildungsflüchtling nach Österreich, mit dem Unterschied, dass ich nicht einen Medizin-Studienplatz belegt sondern den Master in Wildtierökologie und Wildtiermanagement studiert habe, den es in der Form in ganz Europa nur hier gibt.

Wie kam es dazu, dass Du dieses Studium gewählt hast? War das ein Kindheitstraum oder ist das erst später entstanden?

Das ist definitiv in der Kindheit entstanden, entweder genetisch bedingt oder durch Frühprägung. In meiner näheren Verwandtschaft ist alles was Biologie, Ornithologie, Naturforschung betrifft über Generationen weitergegeben worden. In meiner Kindheit bin ich in ländlicher Umgebung aufgewachsen und hatte viel Natur und Tiere um mich. Im wahrsten Sinne von Beobachtung bis Essen und hab da in der 1. Schulklasse schon gesagt, „ich möchte später Biologie machen und Biologie-Professor werden“. Ist es dann nicht ganz geworden, aber die Richtung war schon von mir ganz früh vorgegeben.

Du hast jetzt beruflich nachjustiert und beschlossen mehr raus zu gehen und selbstständig zu arbeiten. Die Wissenschaftler-Position am Institut hat Dir die Spaß gemacht? Ist das ein normaler Weg, den man einschlägt?

Ziele im Leben ändern sich, wo man hingeht usw. Jede Universität hat mich anders geprägt: wenn ich in Würzburg geblieben wäre, wäre ich wahrscheinlich jetzt irgendwo in Afrika auf einer Forschungsstation und dann Göttingen, da wäre ich wahrscheinlich in Südost-Asien oder auf Madagaskar gewesen und jetzt mit Wien gibt es verschiedenen Möglichkeiten wo ich arbeiten kann. Bei uns gibt es diese beiden großen Felder: das Eine ist das wissenschaftliche Arbeiten, was mir sehr viel Spass gemacht hat und wo ich sehr viel gelernt habe an der BOKU. Zum Anderen gibt es sehr viel angewandte Projekte, weil wir uns als Wildbiologen tatsächlich mit dieser Interaktion von Mensch, Tier und Natur auseinandersetzen. Diese passiert in sehr angewandten und interaktiven Systemen draußen. Durch die praktische Arbeit an der Universität hab ich es lieben gelernt draußen zu arbeiten und dort Ideen zu finden, wie ich etwas umsetzen kann und gesehen, daß dieser rein akademische Bereich für mich auf lange Sicht nicht das bieten kann. Da geht es sehr stark um die Produktion von Journalartikeln, Paper zu publizieren, eben ein starker Fokus auf diesen wissenschaftlichen Output und nicht um die Umsetzung vor Ort.

Weil man dann auch hauptsächlich das machen muss, was einem vorgegeben wird oder was von Außen angefragt wird?

Das weniger, man kann sich natürlich schon selbst frei die Richtung in die man forscht überlegen und ist aber abhängig davon dafür Finanzierung zu finden. Aber prinzipiell gilt das noch, daß die Forschung frei ist, aber trotzdem müssen am Ende des Tage wissenschaftliche Publikationen das Endprodukt sein, die ganz andere Zielsetzungen haben, als man draußen in der Natur hat. Das ist das woran man gemessen wird und da ist der Wissenschaftsbetrieb sehr gnadenlos. Da sehe ich nun für mich die Option, aus dem rein wildbiologischen Sektor rauszudenken und Projekte zu machen im Bereich Erwachsenenbildung oder Citizen-Science.

Ich finde Deine Arbeit wirklich sehr interessant! Das Zusammenspiel zwischen Mensch, Tier und Natur, das Forschen, das Fragen definieren und diesen dann nachzugehen. Eine Frage die ich immer gerne stelle und was mach sehr interessiert: Was machst Du eigentlich? Was glaubst Du steht über Alle dem, was Du arbeitest, wie Du wirkst. Was machst Du eigentlich als Wildbiologe?

Das ist eine schwere Frage, aber wenn ich das so weiter abstrahiere, dann bediene ich eigentlich den Wunsch oder das Verlangen von meinen Auftraggebern, ihre eigene Neugier zu befriedigen. Sie können das in ihrem eigenen Lebensalltag nicht, mit den Methoden, mit ihrem Zeitkonto das sie zur Verfügung haben. Eigentlich sind meine Auftraggeber sehr neugierig, egal ob das eine Universität oder Kunden aus der Privatwirtschaft sind. Sie wollen etwas herausfinden, wollen sehen wie etwas zusammenhängt und können das aber selbst nicht lösen. Die leben das dann so aus, indem sie mich forschen und nachdenken lassen und meine Ergebnisse nutzen und in ihrem Arbeitsalltag einsetzen.

Das heißt Du bist eine „Auftrags-Neugierdsnase“?

Eigentlich schon. Ich darf auch als Erwachsener ein verspieltes neugieriges Kind sein, das sich in Projekte reintigert, Lösungsansätze findet, die sonst verborgen sind und denen meine Auftraggeber sonst nicht auf die Spur kämen. Diese Informationen, die ich gewinne, darf ich dann auch weitergeben und versuchen andere Menschen damit neugierig zu machen und vielleicht auch in ihrem Tun und Handeln zu verändern.

Gab es in der Vergangenheit ein Projekt, das Dich überaus begeistert hat. z.B. eine spezielle Frage auf deren Spur Du geschickt wurdest?

Ich bin vor allem immer begeistert, wenn ich es schaffe eine unsichtbare Welt, die für die meisten nicht erreichbar, verstehbar oder beobachtbar ist und viele Fragen aufwirft, mit meinen wildbiologischen Werkzeugen aufzudecken. Wenn ich nachher in den Gesichtern bei der Präsentation ein Aha und eine Leuchten sehe.

Ein Beispiel: Häufig ist es etwas, was die Menschen schon über Generationen gefühlt haben, was der Urgroßvater, dem Vater usw. schon erzählt hat. Also: wenn der Wind stürmt, dann bleib zu Hause, weil dann die Rehe im Wald bleiben und deswegen geht man bei Wind nicht jagen. Dann schaut man sich das an und fragt nach: „Was machen denn die Rehe, wenn wir alle im Haus sitzen. Sind die weniger draußen, als an einem sonnigen Tag?“ Wenn ich dann in einer langen Forschungsperiode gefühltes bzw. altes Wissen mittels moderner Technik belegen oder auch widerlegen kann, freut mich das sehr!

Hilft Dir da Dein Techi-Gen?

Das hat sich erst so ergeben, ich war früher überhaupt kein Techi. Ich war eher der, der mit Fernglas, Bleistift und Block im Wald gesessen ist. Das hat sich erst so entwickelt, weil die Technologien zugänglicher geworden sind, da heute Baupläne geteilt werden untereinander. Die Leute erklären sich gegenseitig, wie etwas funktioniert, wie man etwas selbst bauen kann. Das ist eine Wissensrevolution, die ermöglicht, daß man ohne großes Startkapital sofort loslegen kann.

Du sprichst von „Open Source“?

Ja genau, das ermöglicht mir all die Projekte zu machen, weil diese Investitionshürden wegfallen. Früher mußte man erst 100.000 Euro ausgeben, bevor man das erste Reh verstanden hat. Das gibt es jetzt nicht mehr. Der Zugang ist jetzt schneller und direkter.

Du hast Dir einen Job geschaffen, mit dem Du Deine Neugier so richtig ausleben kannst. Bleibt da eigentlich noch Neugier übrig für den privaten Robin?

Das ist schwierig, das verschwimmt ein bißchen, weil diese Trennung von privat und beruflich, gerade durch meine Selbstständigkeit fließend ist. Das was ich beruflich mache ich gleichzeitig auch meine Hobby, was mich sonst auch begeistert. Ich hätte großes Interesse an anderen Dingen, für die ich im Moment leider keine Zeit finde z.B. Archäologie und alte Familiengeschichten.

Was können wir von Deinem beruflichen Tun hier am Stadtrand lernen, wie können wir davon profitieren?

Da fällt mir spontan eine Analogie zu Rehen ein. Wenn wir uns in der Wildtierforschung anschauen, warum sich einzelne Tiere anders entscheiden als andere. Wenn man auf eine Gruppe schaut, dann verhalten die sich so ähnlich wie Menschen. Sehr individuell und sehr unterschiedlich. Früher hat man immer geglaubt, daß alle über einen Kamm scherbar sind und jedes Tier reagiert in einer Situation gleich. Später ist man draufgekommen, daß Tiere sehr unterschiedlich auf die gleichen Reize und die gleiche Umgebung reagieren. Wenn z.B. junge Rehe ein neues Zuhause suchen, dann hat das eine Konsequenz für sie, vor allem für die Böcke, weil wenn diese sich einmal festgelegt haben, hier möchte ich leben, bleiben die den Rest ihres Lebens da. Jetzt gibt es verschiedene Taktiken und Strategien: es gibt Tiere die kommen aus dem gleichen Grätzl, der eine marschiert 300km über Autobahnen, an Häusern vorbei irgendwohin und findet mit Mut und Neugier und der Offenheit zu Neuem, ein neues Gebiet und erobert es für sich. Und dann gibt es andere, die marschieren 100m und drehen dann wieder um und merken, das Fremde ist nicht meins und quätschen sich zu Hause zwischen die Verwandten und bleibt dann für immer da. Und dann gibt es Dritte, die laufen die halbe Strecke, sind eigentlich mutig und dann passiert irgendetwas, stehen vor einem Windrad oder vor einer Straße, bekommen Angst, drehen um und gehen wieder nach Hause. Es gibt also völlig unterschiedliche Strategien auf Neues zu reagieren. Da hat man dann untersucht, woran liegt das, was macht diese Rehe anders, die mutig sind, die rausgehen, die auf Neues reagieren. Worin unterscheiden die sich von denen die Zuhause bleiben. Da ist ein Teil angeboren und ein Teil basiert auf dem was sie in den ersten Lebensjahren erleben, wie ihre Mutter sie aufzieht, wie sicher sie sich fühlen, wieviel Konkurrenz sie um sich herum spüren, wieviel Reserven sie haben Risiko einzugehen.

Bei uns Menschen ist das ähnlich: da gibt es Leute, die gerne zurückgezogen, weniger kommunikativ ihren Alltag leben, und dann gibt es Andere, die den Wunsch haben Neues zu lernen, raus zu gehen und Risiken einzugehen und irgendwie dann einfach mal den Fremden draußen am Dorfplatz anzusprechen. Das muss eben nicht nur an der Sozialisierung und irgendwelchen Veranlagungen liegen, sonder kann in der Summe der Erfahrungen des Lebens liegen, Das macht es so schwierig zu sagen, es gibt nur eine bestimmte Art Menschen anzusprechen und sie aus ihrer Kommunikationsblase oder ihrem Loch herauszuholen und sie zu etwas zu motivieren.

Grundsätzlich ist ja dieses Verhalten überall gleich, egal ob am Land, in der Stadt oder auf einer Insel. Ich glaube aber schon, dass Stadtrand-Menschen eine Gattung sind, die eingenommen vom Job, aus der Stadt rausgekommen, um hier im Grünen zu leben, weil sie sich für sich oder ihre Kinder ein ländlicheres Wohnumfeld wünschen. Durch das Zeitintensive Pendeln sind sie gestresst und haben weniger Zeit für soziale Kontakte. Da gibt es sicher den Einen oder Anderen, der gerne würde, aber nicht kann, weil ihm die Zeit und Energie fehlt.

Ja, das ist spannend: bleib ich lieber in meiner Komfortzone, habe aber dann keinen neuen Input, oder ist die Lust auf Neues oder auf gemeinsame Aktivitäten mit Anderen so groß, daß ich zum Stammtisch oder zum Vortrag gehe. Da kann man von Draußen in diesem Abwegungsprozess schon etwas eingreifen und diese Schwelle niedriger machen.

Ist es nicht so, daß je mehr Angebote es gibt, die Chance steigt, daß ein paar Menschen „zurückfinden“, wieder neugieriger auf Andere werden und positive Erfahrungen machen?

Ich beschäftige mich nicht nur wissenschaftlich mit der Natur, sondern auch damit, wie wir es schaffen die Verbindung zur Natur wieder zu stärken und die Menschen mehr rauszubringen. Was mir im Bezug auf z.B. Vögel aufgefallen ist, dass in den meisten Orten in denen ich vorher gelebt habe, es Gruppen oder Individuen gab, die sich intensiv mit der Vogelwelt beschäftigt haben in einer Gemeinde und Kinder aber auch Erwachsene mitgenommen haben zum Nistkästen ausmisten, Vogelstimmen analysieren usw. Wenn irgendwo ein Bauprojekt geplant wurde, dann wurde gemeinsam diskutiert welche Auswirkungen das haben könnten. Das fehlt hier völlig! Es gibt keine Einzelnen, keine Gruppen, kein Verein innerhalb der Gemeinde mit Fokus darauf, die sich explizit damit auseinandersetzen. Ich bin nun wirklich schon viel in der Welt herumgekommen, aber ich hab noch keinen Ort gefunden, wo so ein Fokus nicht existent ist, wo es nicht zumindest eine Person gibt, die das als Hobby betreibt und andere damit begeistert. Die den Wunsch hat diese Begeisterung an andere Menschen weiterzugeben. Das ist ein ganz eigenartiges Konstrukt, möglicherweise resultiert das aus der Eigenheit von Suburbia.

Im Machbarschaftlichen Tun kommt immer wieder die Frage auf „woher rührt dieses Desinteresse sowohl der Menschen die hier geboren, als auch derer die zugezogen sind?“. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem ehemaligen Nationalpark-Direktor Carl Manzano, der von der Anfängen des Nationalpark Donauauen erzählt hat, wo die Bewohner sich händeringend gewehrt haben und meinten „das brauchen wir nicht, wir wollen keinen Tourismus“. Vielleicht finden wir ein Begründung, wenn wir ein bißchen in der Geschichte zurückgehen? Nur findet durch den massiven Zuzug der vergangenen Jahrzehnte eine Durchmischung statt und trotzdem scheint sich nichts zu ändern.

Zurückkommend auf meine eigene Erfahrung: als ich damals von Würzburg nach Göttingen gezogen bin, war ich alleine, kannte noch niemanden, suchte Anschluss, wollte etwas unternehmen, habe mich schlau gemacht, ob es in meinem Interessengebiet etwas gibt und bin auf einen ornithologischen Stammtisch gestossen. Die haben sich abends getroffen, über verschiedenes geplaudert und sind dann am nächsten Tag raus in die Natur.

Wenn jemand neu zuzieht, dann braucht er eine Andockstelle, wo er auf andere treffen kann mit ähnlichen Interessensgebiet. Es können natürlich auch neue Projekte gestartet werden, aber dafür braucht es Orte, wo sich interessierte Menschen treffen können.

Eine interessante Begegnung hatte ich vor kurzem, als ich einen ehemaligen Kollegen von der Boku getroffen habe und wir im Laufe des Gespräch draufgekommen sind, dass wir im gleichen Ort leben. Mit ihm habe ich auch darüber gesprochen und auch er hat keine Antwort gewußt, warum es solche Strukturen und Initiativen hier nicht gibt.

Wie kann so eine Andockstelle, für Menschen, die sich engagieren wollen, aussehen. Wenn jemand nach Groß-Enzersdorf zieht, wo soll er sich mit seinen Interessen und Wünschen hinwenden?

Zum Beispiel kann eine analoge/digitale Anschlagwand hilfreich sein, wo man von seinem Tun berichten kann und so neugierig macht auf sich und Andere motiviert einem über die Schulter zu schauen. Dafür braucht es keinen Verein, keine Struktur und keine Mitgliedschaft. Wenn z.B. irgendwo ein Mauersegler runterfällt, dann kann man sich da an jemanden wenden, der sich damit auskennt. OK hier im Marchfeld geht das in die Greifvogelstation, aber das soll nur ein Bespiel sein.

Im Grunde genommen, haben wir ja so eine Plattform mit der Facebook Gruppe „Gross-Enzersdorf-Suchen, Finden, Weitersagen“ geschaffen.

Ja nur glaube ich, dass da solche Sachen eher untergehen in den ganzen Diskussion und News. Diese Gruppen haben meist einen anderen Fokus. Es bräuchte wahrscheinlich etwas wie ein Stadtrand-Wiki, wo nach Schlagwörtern gesucht bzw. verschiedene Angebote aufgelistet werden können.

Nun so etwas ähnliches gibt es eigentlich schon auf der Webseite der Gemeinde, nur ist es nicht wirklich Userfreundlich. Menschen konsumieren unterschiedlich, die Einen lesen gerne, die anderen hören lieber zu und die Dritten wollen lieber nur Bilder sehen..

Wir haben seinerzeit auf der BOKU eine Art „Tag der offenen Tür“ für die Anrainer veranstaltet, wo sich die einzelnen Institute auf Tischen auf den Gängen präsentiert haben und die Nachbarn durchgehen und sich informieren konnten.

Spannend, so eine Veranstaltung gab es in Matzen nördlich von Gänserndorf, wo sich Unternehmen und Initiativen vorstellen konnten. Im Stadtteil Essling sind in den letzten Monaten durch die Initiative „Treffpunkt Essling“ viele neue Talente vor den Vorhang geholt worden. Die haben damit wirklich in der Region Pionierarbeit geleistet.

Eine Idee, wie man die Menschen in Suburbia aus ihren Häusern lockt, könnten Aufrufe wie die „Stunde der Gartenvögel“ sein, eine weltweite Initiative, wo viele Millionen Menschen mitmachen. An einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde zählen die Menschen vor ihrem Haus oder Wohnung am Vogelfutterhäuschen wieviele von welchen Vogelarten da sind und man schreibt die max. Zahl die gerade gesichtet wurden auf. Diese Daten werden gesammelt, dabei entsteht auch eine Wettbewerbssituation. Wo wurden die meisten Arten gesichtet usw. Jeder der einen Maisenknödel vor dem Fenster hat, kann dabei mitmachen. Funktioniert auch perfekt während eines Lockdowns. Über solche niederschwelligen Projekte kann man Menschen motivieren sich mit etwas Neuem zu beschäftigen oder sich sogar für eine Sache zu engagieren.

Spannend, es gibt wirklich vielfältige Möglichkeiten über Hobbys und Interessensgebiete niederschwelligen Formate zu entwickeln, um andere Menschen zu engagieren und kennenzulernen. Vielleicht fühlt sich ja jemand inspiriert. Vielen Dank für das Gespräch!

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